Durch meine langjährige Praxis der Kampfkunst Shotokan Karate, habe ich auch ein grosses Interesse daran japanische Philosophien, Ideen, Konzepte und Methoden zu studieren. Es gehört für mich zum täglichen Leben, dass ich versuche die Philosophie von Karate auch im Alltag zu nutzen. Daher ist es naheliegend, dass ich mich auch mit Konzepten wie Kaizen oder Ikigai auseinandersetze. In diesem Blogbeitrag möchte ich näher auf Ikigai eingehen.
Wörtlich übersetzt besteht Ikigai aus den Silben Iki 生き („Leben“) und Gai 甲斐 („Sinn). Es beschreibt somit ein Konzept, um den Sinn des Lebens für sich persönlich näher zu ergründen. Es bedeutet so viel wie „das, wofür es sich zu leben lohnt“. Ich möchte schon hier vorwegnehmen, dass es sich dabei auch um ganz kleine Dinge handeln kann. Ikigai muss kein grosser Traum sein, der uns antreibt. Es kann der tägliche Spaziergang, die Kaffeepause mit Freunden, das Stück Schokolade oder sonst eine Kleinigkeit sein. Ich denke, dass wir unbedingt davon abkommen sollten, dass wir alle einen grossen Lebenstraum brauchen, um glücklich zu sein. Grosse Visionäre schaffen es in die Medien und werden gefeiert, aber das soll nicht heissen, dass dies der Weg für uns alle ist. Die folgenden 5 Säulen von Ikigai sollen uns als Leitfaden dienen:
- Klein anfangen
- Loslassen lernen
- Harmonie und Nachhaltigkeit leben
- Die Freude an kleinen Dingen entdecken
- Im Hier und Jetzt sein
Klein anfangen
Unser aller Leben starten mit kleinen Dingen. Als Kinder lernen wir zuerst unsere Beine und Arme zu bewegen, dann versuchen wir Dinge zu fassen, anschliessend wollen wir uns aufrichten und bringen Spannung in den Körper, wir fangen an zu krabbeln, robben, rollen und schlussendlich schaffen wir es zu stehen, zu gehen und sogar zu rennen. Ganz natürlich fangen wir nicht gleich an zu rennen, denn es würde nicht funktionieren. Jedes Kind bewegt sich in seinem eigenen Tempo auf dieses grosse Ereignis hinzu. Als Erwachsene verlieren wir diese Beharrlichkeit ein Stück weit. Wir wollen das Dinge sofort geschehen, sind zeitweise enttäuscht und wütend, wenn es nicht sofort funktioniert. Wo ist unsere Beharrlichkeit der Kindheit hin? Wir alle besitzen diese Fähigkeit und sollten sie wieder entdecken.
Loslassen lernen
In der westlichen Welt zählt das Ich mehr als die Gemeinschaft. Man sieht dies auch sehr gut an den Reaktionen, welche im Zusammenhang mit der Corona Pandemie hervorgerufen werden. Wir sind wütend, dass wir nicht in unsere Lieblingsbeiz gehen können, wir fühlen uns in der individuellen Freiheit beschränkt, wenn wir Schutzmasken tragen sollen, wir zeigen kein Verständnis, dass wir nicht shoppen gehen können. All diese Gefühle hängen sehr stark mit der Wahrnehmung des eigenen Ichs zusammen. Man vergisst ein Stück weit, dass man Teil einer Gesellschaft ist und fokussiert sich auf sich selbst.
Loslassen lernen bedeutet auch, dass wir uns selber nicht mehr so ernst nehmen. Das wir akzeptieren, dass wir in einer Gesellschaft von Menschen leben und nicht für jede Handlung mit Lob überschüttet werden müssen. Oft definieren wir uns auch über den Beruf, welchen wir ausüben oder den sozialen Status, den wir geniessen. Fällt dies weg, rutschen wir in eine Identitätskrise. Die Pandemie hat uns auch gelehrt, dass es nicht die Schauspieler, Fussballer und Börsenhändler sind, die uns in der Krise einen grossen Dienst erweisen. Es sind Krankenschwestern, Pfleger, Kassierer, Pöstler etc., welche normalerweise einen niedrigeren sozialen Status geniessen. Jeder Mensch verdient den gleichen Respekt.
Harmonie und Nachhaltigkeit leben
In unserer schnelllebigen Zeit hat sich auch unser Verständnis von Nachhaltigkeit langsam verändert. Wir sind es uns gewohnt, dass sich Dinge innerhalb von Wochen oder Monaten radikal ändern können. Alle paar Jahre brauchen wir wieder neue Smartphones. Unternehmen steigen innerhalb von wenigen Jahren zu Giganten auf, um dann wieder zu zerfallen. Tagtäglich erhalten wir Dutzende von Dopamin Ausschüttungen und verlangen nach immer mehr.
Die Menschen sollen nicht nur in Bezug auf die Natur Harmonie und Nachhaltigkeit leben, sondern auch innerhalb eines sozialen Kontexts. Viele von uns versuchen bereits Rücksicht auf die Umwelt zu nehmen, aber tun wir dies auch in gleichem Masse mit unseren Mitmenschen? Jede unserer sozialen Aktivitäten sollte nachhaltig und harmonisch sein.
Die Freude an kleinen Dingen entdecken
Kleine Dinge geschehen tagtäglich, aber oft gehen sie im Stress des Alltags unter und wir bemerken sie kaum oder gar nicht. Durch eine verstärkte Achtsamkeit gelingt es uns, dass wir auch die kleinen Dinge des Alltags wieder wahrnehmen. Fokussieren Sie sich z.B. mal auf Ihre Mahlzeit, ohne sich dabei die Nachrichten anzuhören oder E-Mails zu prüfen. Gehen Sie in den Wald, um den Geräuschen zu lauschen. Die Japaner nennen dies 森林浴 Shinrin Yoku (Waldbaden).
Um kleine Dinge zu entdecken, die uns Freude bereiten, müssen wir langsamer werden und den Alltag bewusster wahrnehmen. Fragen Sie sich am Ende des Tages was Ihnen Freude bereitet hat. Wie eingangs bereits erwähnt, brauchen wir nicht alle eine grosse Vision, um glücklich zu sein. Es reicht, wenn wir kleine Dinge im Alltag entdecken, die uns Freude bereiten.
Im Hier und Jetzt sein
Normalerweise unterhalten sich Leute über die Vergangenheit oder über die Zukunft. Oft war in der Vergangenheit alles besser und die Zukunft bereitet vielen Menschen sorgen. Unserem Verstand fällt es leicht, sich an Dinge zu erinnern oder sich, um das Kommende zu sorgen. Allerdings sind unsere Gedanken über die Vergangenheit sehr stark von einer subjektiven Wahrnehmung geprägt und so auch die Ängste und Hoffnungen über die Zukunft.
Das Hier und Jetzt hat allerdings keine solche Prägung, es ist einfach. Das Leben ist erfüllt von Dingen, die nur einmal geschehen. Die Erkenntnis der Einmaligkeit von Begegnungen und Freuden des Lebens steht im krassen Gegensatz zu der andauernden Berieselung durch Informationen in unserer Gesellschaft.
Wenn man die kleinen Dinge im Leben bemerkt, wiederholt sich nichts. Wir brauchen keine ständige Bespassung durch soziale Medien. Achten Sie also bewusst auf die kleinen Dinge im Leben und nehmen Sie den Moment wahr.
Um sein ikigai zu finden, muss man Klischees überwinden und auf die eigene Stimme hören.
Ken Mogi